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UMFRAGEFORSCHUNG QUO VADIS?

Aktualisiert: 27. März 2022

Ein kritischer Kommentar


Eines gleich vorab: als ein Vertreter der „Big Data Zunft“ bin ich vermutlich nicht besonders qualifiziert diesen Artikel zu schreiben bzw. der Umfrageforschung einen profunden Vorwurf zu machen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: ich könnte diese Entwicklung begrüßen und den zunehmenden Untergang der Umfrageforschung „abfeiern“. Das tue ich jedoch nicht. Warum ich dieses Handeln unterlasse, werde ich Ihnen in den folgenden Ausführungen zu schildern versuchen. Seien Sie also etwas nachgiebig mit mir.


Wenn wir von Markt- und Meinungsforschung sprechen, dann müssen wir etwas simplifiziert zunächst einmal zwei ganz bedeutende Aspekte voneinander unterscheiden, die für die gelebte Praxis allerhöchste Geltung entfalten. Wir haben es nämlich auf der einen Seite mit dem „authentischen“ Phänomen zu tun, etwas über einen bestimmten Erhebungsgegenstand in Erfahrung bringen zu wollen. Dieses Phänomen unterwirft sich ganz den Ansprüchen der guten wissenschaftlichen Praxis. Wollen wir etwa wissen welchen Preis ein Unternehmen für ein bestimmtes Produkt veranschlagen darf, so müssen wir hierfür die TATSÄCHLICHE Zahlungsbereitschaft im Feld (erfragend) ermitteln, schließlich wollen wir uns ja nicht selbst täuschen. Wir können dieses Phänomen auch auf die Politik übertragen und der Frage auf den Grund gehen, welche Wahlbotschaften ganz besonders gut bei einer bestimmten Zielgruppe ankommen. Auch in diesem Fall werden wir an den TATSÄCHLICHEN Daten bzw. Ergebnissen interessiert sein, gilt es doch die beste Botschaft ins Rennen zu schicken. In beiden Fällen, hier kann selbst ich den Sinn der Umfrageforschung nicht gänzlich negieren, sind wir also dazu aufgerufen, ja gar intrinsisch motiviert, eine wissenschaftlich saubere Herangehensweise zu betreten, versprechen wir uns oder einem Auftraggeber schlussendlich einen ökonomischen oder politischen Vorteil.


Dieses rationale Prinzip bzw. Kalkül ist nun weder neu noch besonders kritikwürdig. Problematisch wird es aber, wenn sich Wissenschaft und (Massen)-Kommunikation vermischen. Wir haben mit dem Buzzword „Wissenschaftskommunikation“ sogar einen aus meiner Sicht nicht unproblematischen Zugang gefunden, dessen Grenzen gerade in der COVID-Krise besonders schmerzvoll zur Geltung gekommen sind. Denn immer, wenn es darum geht, wissenschaftliche Erkenntnisse AUSSERHALB eines bestimmten Expertenkreises extern und damit (massen)medial zu vermitteln (verkaufen), schleicht sich vielerorts die Versuchung ein, die erzielten Erkenntnisse im besten Fall zu „beschönigen“ und im schlimmsten Fall zu manipulieren. Die Grenzen sind dabei nachvollziehbarerweise äußerst fließend. Ist diese Verlockung nun im „konventionellen“ wissenschaftlichen Setting in der Regel nicht besonders groß, da die Ergebnisse ohnehin nur bei einem sehr eingeschränkten Rezipientenkreis Aufmerksamkeit erzielt, sieht dies etwa bei der politischen Kommunikation ganz anders aus.


Warum ist das der Fall?


In einem (Massen)medium publizierte Umfrageergebnisse unterliegen dem sozio-kybernetischen Prinzip der Selbstnormalisierung. Als soziale Wesen richten wir unser Verhalten an den übrigen Handlungsakteuren aus. Wir „normieren“ uns damit gewissermaßen. Als Alltagsakteure wollen wir in einem pragmatischen Sinne möglichst erfolgreich sein, in unseren Erwartungen also nicht enttäuscht werden. Wir wollen zu den Gewinnern, nicht zu den Verlierern zählen. Wir haben für dieses Phänomen sogar ein eigenes Sprichwort gefunden:

„the winner takes it all“.

Je mehr Personen einem gewissen Politiker ihr Vertrauen aussprechen, desto größer die (statistische) Sogwirkung und damit natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass auch andere Personen diese Person besonders eindrucksvoll finden (werden). Ich habe diesem statistischen Prinzip in meiner Dissertation viel Aufmerksam gewidmet und wir können dieses Phänomen hervorragend mit der aufstrebenden wissenschaftlichen Disziplin der bayesianischen Statistik sehr gut in den Blick nehmen. Es ist nun exakt dieses sozio-kybernetische Prinzip, das Sebastian Kurz so groß und schlussendlich auch so erfolgreich gemacht hat. Es ist aber auch die Achillesferse der Demoskopie, denn genau an diesem Punkt kann die MEINUNGSforschung bzw. die Wissenschaftskommunikation in einen ethischen und moralischen Konflikt geraten. Dieser Konflikt beginnt bereits mit Kleinigkeiten und muss nicht auf eine manipulierte Studie zurückzuführen sein. So haben wir uns bei der Publikation einer wissenschaftlichen Erkenntnis natürlich immer zu entscheiden, welche Aspekte der durchgeführten Untersuchung kommunikativ zu transportieren sind. Bereits beim Weglassen gewisser Aspekte (z.B. bestimmte politische Themen, Rankings etc.) kann dabei schon eine „False Balance“ entstehen. Eine erst kürzlich geführte Diskussion, lassen Sie es uns Kontroverse nennen, zwischen Markus Lanz und Jan Böhmermann im Kontext des TV-Auftritts von COVID-Experten vermag diesen Aspekt besonders gut zu veranschaulichen.


Was also tun?


Es ist in einigen Ländern bereits gelebte Kultur auf veröffentlichte Meinungsumfragen kurz vor einer Wahl zu verzichten. Dies halte ich für eine „Augenauswischerei“ findet die Meinungsbildung schließlich längerfristig statt und lässt sich nicht per „Knopfdruck“ stoppen. Ich glaube es ist an der Zeit viel weiterzugehen, ja das Verhältnis von Demoskopie im Kontext der Wissenschaftskommunikation radikal (neu) und damit gleichzeitig doch sehr konventionell, ja originär in den Blick zu nehmen. Unterlassen wir es doch einfach mit (Meinungs)forschung politische Stimmung zu machen und besinnen wir uns auf das was gute Forschung eigentlich immer sein soll: Erkenntnisgewinn, nicht mehr, aber auch nicht weniger.


Zum Autor

Sebastian Naderer ist Founder der datrion GmbH und forscht interdisziplinär auf den Themengebieten der Neurolinguistik, der Künstlichen Intelligenz sowie an Mensch-Maschine Schnittstellen und hat zahlreiche Publikationen im Kontext von Computational Social Science veröffentlicht. Im Rahmen seiner Dissertation ist es Naderer gelungen Millionen von Suchtermen entlang unterschiedlichster Lebenswelten (z.B. Arbeit, Finanzen, Ernährung, Fitness etc.) nachweislich miteinander zu relationieren und so ein ganzheitliches Datenmodell und damit interagierende Anwendungen zu erstellen.

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